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Der Abschied
Dm zehnten Jahr nach der Auswanderung, als das Fasten des Monats Ramadan zu Ende ging, vertraute der Prophet seiner Tochter Fatima etwas an, das sie niemandem erzählen sollte: „Jedes Jahr im Ramadan rezitiert Gabriel mir einmal den Koran, und jedes Jahr rezitiere ich ihn einmal. Aber in diesem Jahr hat er ihn mir zweimal rezitiert. Das lässt mich glauben, dass meine Zeit gekommen ist.“417 Weiter sprach er zu Fatima: „Neben der Jungfrau Maria, der Tochter des Imran, gehörst du zu den am höchsten angesehenen Frauen des Paradieses.“418
Fatima war die letzte seiner Töchter, die noch am Leben war. Zaynab war zwei Jahre zuvor gestorben. Sie hatte sich nie ganz von den
Verletzungen und der Fehlgeburt erholt, die sie erlitten hatte, als sie beim Verlassen Mekkas aufgehalten wurde, und so starb sie letztlich an den Folgen von Habbars Angriff. Nach ihrem Tod blieb Muhammad nur Fatima, da Ruqayya und Umm Kulthum schon vor Zaynab gestorben waren. Muhammad war sehr traurig darüber gewesen, auch Zaynab verloren zu haben.
Einen Monat später gab der Prophet bekannt, dass er selber die große Pilgerfahrt leiten werde. Mehr als dreißigtausend419 Männer und Frauen mit ihren Familien freuten sich, ihn begleiten zu dürfen. Dieses Jahr waren alle Pilger endlich Verehrer des Einen Einzigen Gottes;
Götzendiener gab es keine mehr unter ihnen. Unterwegs bekam Aischa ihre Monatsblutung und war deshalb sehr betrübt, denn sie dachte, sie dürfe in diesem Zustand die Pilgerfahrt nicht vollziehen. Als der Prophet den Grund für ihr Weinen erfuhr, sagte er ihr, dass sie alle Pilgerriten verrichten dürfe, außer dem Umschreiten der Kaaba.
Nachdem der Prophet die Kaaba siebenmal umrundet und den Lauf zwischen den Hügeln Safa und Marwa vollendet hatte, begab er sich nach Mina, wo er einen Tag verbrachte. Am nächsten Morgen ritt er zu der Ebene von Arafat. Als die Sonne am Mittag den Zenit überschritten hatte, ritt er das Tal hinab, wo die Menschen sich versammelt hatten, lobpreiste Allah und verkündete die Unantastbarkeit des Lebens und des Besitzes jedes Menschen.
„Ihr Menschen, hört mir gut zu, denn es kann sein, dass ich nicht noch einmal mit euch an diesen Ort zurückkomme! O ihr Menschen, euer Blut und euer Besitz sind für euch unantastbar, bis ihr eurem Herrn begegnet ... Vergesst nicht, dass ihr eines Tages eurem Herrn gegenübertreten werdet, Der euch nach euren Taten befragen wird. Dann müsst ihr für alles, was ihr in eurem Leben getan habt, die Verantwortung tragen.
Wenn einer von euch ein anvertrautes Gut hat, so soll er es dem zurückgeben, der es ihm anvertraut hat. O Allah, ich habe es verkündet! O Allah, sei mein Zeuge!420 Alle Zinsen sind aufgehoben, aber euch gehört euer Vermögen. Ihr sollt nicht ungerecht behandelt werden und sollt auch selbst niemanden ungerecht behandeln. Allah hat beschlossen, dass es keinen Zins geben darf, und die Zinsen von Abbas Bin Abdul-Muttalib sind somit alle aufgehoben. Betrügt euch nicht gegenseitig und handelt nie ungerecht.421 Nehmt nie etwas von einem anderen Menschen, das dieser
euch nicht gerne gibt. Behandelt eure Frauen freundlich und kümmert euch gut um all diejenigen, die euch anvertraut sind. Ich hinterlasse euch eine klare Richtschnur, das Buch Allahs und die Sunna Seines Propheten, welche ich euch gelehrt habe. Wenn ihr danach handelt, werdet ihr nicht in die Irre gehen. Hört auf meine Worte und versteht! Allah ist mein Zeuge, dass ich euch die Botschaft des Islam überbracht habe.“422
Dann rezitierte er den zuletzt offenbarten Vers, der den Koran vervollständigte: „Heute habe Ich euren Glauben für euch vollendet
und habe Meine Gnade an euch erfüllt und es ist Mein Wille, dass der Islam euer Glaube ist.“423
Diese Wallfahrt wurde zu Muhammads Abschiedswallfahrt, auf der erdie islamischen Werte bekräftigte und die Gläubigen die richtige Art der Pilgerfahrt lehrte, so wie sie einst Abraham gelehrt hatte. Er zeigte ihnen, wie man den spirituellen Teil des Glaubens vollzog, der die Pilger zu friedlichen Menschen machte, die während der Pilgerfahrt nicht einmal eine Pflanze ausrissen. Nachdem er Satan symbolisch gesteinigt und Tiere geopfert hatte, ließ er sein Kopfhaar rasieren.
Chalid war heute ein ganz anderer als sonst; er trat an den Propheten heran und bat: „O Gesandter Allahs, deine Stirnlocke! Gib sie keinem außer mir! Du bist mir lieber als Vater und Mutter!“424 Als er sie bekam, legte er sie an seine Augen und Lippen.
Zwei Monate nach der Abschiedswallfahrt erkrankte der Prophet. Die ersten elf Tage fühlte er sich noch kräftig genug, zu jedem Gebet in die Moschee zu gehen und es als Imam zu leiten. Er rief die Menschen noch einmal zu sich und legte ihnen die fünf täglichen Gebete und den Koran ans Herz. Er bat sie, sich zu melden, wenn er ihnen irgendetwas schuldete.
Einmal sprach er während dieser Tage von der Kanzel: „Unter den Dienern Allahs gibt es einen, den Allah zwischen dieser Welt und der Welt, die bei Ihm ist, wählen ließ, und dieser Diener hat die Welt, die bei Allah ist, gewählt.“ Wahrscheinlich wollte er die Menschen nicht beunruhigen. Abu Bakr aber verstand die Botschaft, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Als der Prophet ihn weinen sah, bat er ihn aufzuhören und sagte: „Die Türen, die zur Moschee führen, sollen alle geschlossen werden, außer der Tür Abu Bakrs. Denn ich kenne keinen, mit dem ich eine bessere Freundschaft hatte als mit ihm.425
Hätte ich einen Freund unter allen Menschen der Welt auswählen müssen, von dem man sich nie trennt, hätte ich Abu Bakr gewählt. Aber wir sind Gefährten und Glaubensbrüder, bis Allah uns bei Sich wieder vereint.“426
In seinen letzten Tagen war der Prophet sehr schwach und musste viel liegen. Er bekam von seinen Frauen die Erlaubnis, diese Zeit bei Aischa zu verbringen, wo die anderen ihn besuchten. Seine Tochter Fatima kam ebenfalls oft zu ihm; einmal küsste sie ihn, und Aischa sah, wie er seiner Tochter etwas ins Ohr flüsterte und sie zu weinen begann. Dann flüsterte er ihr noch einmal etwas zu, und sie lächelte durch ihre Tränen.
Als Aischa sie später danach fragte, antwortete sie: „Der Prophet hatte mir erklärt, dass er an dieser Krankheit sterben würde, und deshalb weinte ich. Dann jedoch sagte er mir, dass ich die Erste unter den Menschen seines Hauses sein werde, die ihm ins Jenseits folgen wird, deshalb lächelte ich.“427
Als sie ihren Vater wieder einmal besuchte, weinte sie und sagte: „O mein Vater, welch ein Schmerz!“ Er lächelte und sprach zu ihr: „Deinen Vater wird nach diesem Tag kein Schmerz mehr treffen.“
Er ließ seine Enkel Hassan und Hussain zu sich kommen und verabschiedete sich von ihnen. Auch seine Frauen versammelte er noch einmal zum Abschied um sich. Am Samstag sank sein Fieber, und er wollte trotz seiner Schwäche zur Moschee, wo er die Gläubigen im Mittagsgebet antraf. Diese waren froh und erleichtert, dass es ihm wieder besser ging. Die Freude, ihn zu sehen, hätte sie fast vom Gebet abgelenkt.
Auch das Gesicht des Propheten strahlte vor Freude, als er ihre friedliche und spirituelle Haltung sah. Von seinem Cousin Al Fadl und
Thauban, einem freigelassenen Sklaven, gestützt setzte er seinen Weg fort. Abu Bakr, der das Gebet leitete, hörte ihn kommen und trat einen Schritt zurück, ohne den Kopf zu wenden, aber der Prophet legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn wieder vor die Versammelten, damit ermit dem Gebet fortfuhr, während er selbst sich zu seiner Rechten niederließ und sitzend betete.428
Nach dem Gebet half man ihm, in Aischas Wohnung zurückzukehren, wo er sie anwies, die einzigen sechs oder sieben Dirham, die sich in seinem Besitz befanden, den Armen zu spenden. Am nächsten Tag, als er den Ruf zum Morgengebet hörte, ließ er sich zum letzten Mal zur Tür seiner Wohnung helfen, die nur durch einen Vorhang von der Moschee getrennt war. Er beobachtete die Gläubigen, die sich in der Verrichtung des Morgengebetes befanden, und lächelte glücklich. Die Gläubigen freuten sich, während er ihnen andeutete, fortzufahren. Anas erzählte später: „Noch nie hatte ich das Gesicht des Propheten so schön gesehen wie in jenem Moment.“ Dann ließ er den Vorhang wieder fallen.429
Er war sehr schwach, und sein Kopf lag an Aischas Brust, als ihr Bruder Abdurrahman mit einem Zahnholz in der Hand ins Zimmer trat. Aischa merkte, wie der Prophet das Zahnholz ansah, und sie wusste, dass er es gerne hätte. Sie nahm es von ihrem Bruder und begann es zu kauen, bis es weich war. Dann gab sie es dem Propheten, der sich damit die Zähne so energisch putzte wie nie zuvor.
Aischa hatte oft gehört, dass der Gesandte Allahs sagte: „Allah wird keinen Propheten zu Sich nehmen, bevor Er ihn nicht zwischen dem Leben und dem Tod hat wählen lassen“, und es war ihr bewusst, wie ersich entschieden hatte.
Sie sagte: „Bei Dem, Der dich mit der Wahrheit sandte, du wurdest vor die Wahl gestellt und du hast gewählt!“ Dann hörte sie ihn sagen: „Mit denen Du gnädig warst, mit den Propheten, den Wahrhaftigen, den Märtyrern und den Rechtschaffenen.“ Und: „Oh Allah, (Du bist) der höchste Begleiter!“430
Diesen letzten Satz sagte er dreimal, während sein Blick zur Decke wanderte und seine Hand herabsank.431
Die anwesenden Frauen begannen zu weinen. Am Montag, dem 8. Juni 632 n. Chr., im dreiundzwanzigsten Jahr seiner Sendung, im elften Jahr nach der Auswanderung, dem Beginn der islamischen Zeitrechnung, starb der Prophet Muhammad. Die ungeheure Nachricht drang nach draußen. Die Menschen konnten es nicht fassen und waren verzweifelt.
Selbst Umar, der sonst so stark war, schien von der Schwere der Kunde benommen zu sein. Er erklärte den Leuten in der Moschee, Muhammad sei zu seinem Herrn nur in der Weise gegangen, wie einst Moses auf den Berg gegangen war, und er werde wiederkommen und die Heuchler, die diese Nachricht verbreiteten, zur Rechenschaft ziehen.
Während er dies noch sprach, erschien Abu Bakr. Er betrat sofort das Zimmer seiner Tochter Aischa und sah die Wahrheit mit eigenen Augen. Weinend betrachtete er das Gesicht des Propheten und küsste ihn auf die Stirn. Er sprach: „Du bist mir lieber als mein Vater und meine Mutter, du hast den Tod erlebt, den Allah für dich geschrieben hat, aber danach wirst du nie mehr einen Tod erleben.“ Respektvoll legte er das Obergewand auf das Gesicht des Propheten und begab sich in die Moschee, wo Umar immer noch sprach.
„Beruhige dich, Umar, und höre zu!“, rief Abu Bakr. Doch Umar wollte nicht schweigen. Erst als Abu Bakr zu sprechen begann und Allahs Einzigkeit pries, drehten sich die Menschen zu ihm und hörten ihm zu. Abu Bakr sagte:
„O ihr Menschen, wer Muhammad verehrt hat: Muhammad ist nun gestorben; und wer auch immer Allah gedient hat, Allah ist lebendig und stirbt nicht!“ Dann zitierte er ihnen eine Stelle aus dem Koran: „Und Muhammad ist doch nur ein Gesandter, dem schon Gesandte vorausgegangen sind. Wenn er nun stirbt oder getötet wird, werdet ihr euch dann auf den Fersen umkehren? Und wer sich auf den Fersen umkehrt, wird Allah keinerlei Schaden zufügen. Aber Allah wird es den Dankbaren vergelten.“432
Den Menschen war, als hätten sie diesen Vers zum ersten Mal gehört. Umar berichtete später: „Bei Allah! Als Abu Bakr diesen Vers zitierte, war mir klar, dass es stimmte. Meine Beine wurden schwach, und ich ging zu Boden.“ Die Trauer unter den Frauen, Kindern und Männern war unbeschreiblich. Währenddessen lag der Körper des Propheten auf seinem Bett. Seine nahen Verwandten hatten sich um ihn versammelt und berieten, wo sie ihn bestatten sollten. Doch sie konnten sich nicht entscheiden. Auch die anderen Bewohner Medinas waren sich uneinig.
Nach einigen Vorschlägen kam Abu Bakr hinzu. Er sagte: „Ich hörte den Gesandten Allahs sagen: ‚Kein Prophet stirbt, ohne dass er an der Stelle bestattet wird, wo er gestorben ist!‘“433
Darauf wurde entschieden, dass an dem Ort der Lagerstatt, auf der er starb, ein Grab ausgehoben werden sollte. Die engsten Verwandten des Propheten übernahmen seine Waschung, darunter an erster Stelle Ali, Abbas und dessen Söhne Al Fadl und Qutham. Usamah und Schukran, der Freigelassene des Propheten, gossen das Wasser über ihn und Ali wusch ihn, wobei ihm sein knielanges Hemd belassen wurde.
Währenddessen nahmen sie einen ganz besonderen Duft an ihm wahr, so dass Ali ausrief: „Du bist mir wie Vater und Mutter! Wie wohlriechend bist du, sowohl lebendig als auch tot!“ Als sie mit der Waschung fertig waren, hüllten sie ihn in drei weiße, baumwollene Tücher.
Dann wurde den anderen Muslimen die Tür geöffnet, um von der Moschee her einzutreten und einen letzten Blick auf ihn zu werfen, sowie für ihn um Segen zu bitten. Nacheinander, in kleinen Gruppen, betraten sie das Zimmer und beteten für ihn das Totengebet – zuerst die Männer, unter ihnen auch Abu Bakr und Umar, danach die Frauen, und am Ende die Kinder. Ihrer aller Herzen bebten, und die Trauer über das Hinscheiden des Gesandten Allahs, des Siegels der Propheten, schien sie zu zerreißen. Die Bestattung fand in der Nacht zum Mittwoch statt, zwei Tage, nachdem er gestorben war.434 Anas Bin Malik sagte über den Todestag des Propheten Muhammad: „Ich habe keinen helleren und schöneren Tag erlebt, als den seiner Ankunft in Medina und keinen dunkleren und traurigeren, als den, an dem er starb.“435
Fatima folgte ihrem Vater, wie er es ihr gesagt hatte, wenige Monate später; sie war das einzige seiner Kinder, das ihn überlebte.